Marktbericht Oktober 2023: Der ungebetene Gast
Kannst du dich noch an den Typ erinnern, der immer deine Homeparties gecrasht hat? Der deine Toilette geflutet, die Pflanzen deiner Mutter angezündet und deinen Hamster in den Briefkasten gesteckt hat? Der allen die Stimmung vermiest hat und dann einfach nicht mehr gehen wollte? In der Finanzwelt ist das die Inflation. Sie kommt ungefragt und man wird sie schwer wieder los. Immerhin gibt es an den Finanzmärkten professionelle Rausschmeisser: die Nationalbanken. Ihre Aufgabe ist es, die Teuerung zu bekämpfen. Sind sie erfolgreich, hellt sich die Stimmung meistens schnell wieder auf. Bevor die Inflation die Party allerdings verlässt, gibt es kein anderes Gesprächsthema.
So wie im Moment: Alle Augen sind seit Anfang Jahr auf die Nationalbanken und ihren Kampf mit den steigenden Preisen gerichtet. So sehr, dass allein der Gedanke an einen Rauswurf der Inflation Schwung in die Party bringt und zu Gewinnen an den Aktienmärkten führt. Gerät der Kampf hingegen ins Stocken, sinkt die Stimmung im Gleichschritt mit den Kursen. In diesem Marktupdate zeigen wir dir deshalb in fünf Kapiteln, wie sich die Inflation auf die Party schleichen konnte und warum die Hoffnung auf ihren baldigen Rauswurf derzeit die Märkte bewegt.
Kapitel 1: Die Inflation kommt
Als kurze Erinnerung: Inflation ist die Teuerung von Waren und Dienstleistungen. Um sie zu messen, berechnet man den Preis eines Warenkorbs, der typische Gegenstände des täglichen Bedarfs enthält. In der Schweiz ist dies der «Landesindex der Konsumentenpreise». Er umfasst unter anderem die Preise von Nahrungsmitteln wie Brot, Fleisch oder Milch und die Kosten für Miete, Energie oder Versicherungen. Die jährliche Preisveränderung dieses Warenkorbs bezeichnet man als Inflationsrate. Wird das Leben also teurer, steigt die Inflation, wird es billiger, sinkt sie.
Im Februar ist die Inflationsrate in der Schweiz zum ersten Mal seit langer Zeit wieder über das Inflationsziel der Schweizerischen Nationalbank (SNB) von 2 Prozent gestiegen. Gegen den Herbst erreichte die Inflation dann ihren Höhepunkt mit rund 3.5 Prozent. In anderen Ländern kletterte sie teilweise noch auf deutlich kritischere Niveaus: Die USA erreichten Mitte 2022 beispielsweise eine Teuerung von fast 9 Prozent gegenüber dem Vorjahr, wie du in der untenstehenden Grafik siehst.
Wie konnte das passieren? Die kurze Antwort: Durch Corona und den Ukraine-Krieg. Lieferengpässe bei Industriegütern, Öl und Gas trafen nach Corona auf einen Nachholbedarf beim Konsum. Oder etwas abstrakter formuliert: Das Angebot sank, die Nachfrage stieg. Genau wie die Preise. Und zwar schnell und stark.
Kapitel 2: Zinsen gegen die Inflation
Wenn die Inflation steigt, ruft das die Nationalbanken auf den Plan. Denn ihre Aufgabe ist es, die Teuerung zu bekämpfen und die Preise in der Wirtschaft stabil zu halten. Das Werkzeug, das ihnen dafür zur Verfügung steht, sind die Zinsen: Durch eine Erhöhung der Leitzinsen verteuern sie Kredite. Dadurch reduziert sich die Geldmenge, die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen und in der Folge auch das Preisniveau. Wie das genau funktioniert, liest du in unserem Marktbericht vom Januar «Warum Inflation so schmerzt!».
Wie man in der obigen Darstellung leicht erkennt, folgen die Zinsen deshalb fast immer eng der Inflationsentwicklung. Nachdem die Preise bis Frühling 2022 stark angestiegen waren, war es also nur eine Frage der Zeit, bis die Zinsen folgen würden. Und genau das geschah dann noch im gleichen Sommer: Die amerikanische Nationalbank FED begann eher spät - dafür aber umso überzeugter – damit, die Leitzinsen von null auf über 5 Prozent anzuheben. Auch die SNB erhöhte zu dieser Zeit die Schweizer Franken Zinsen schrittweise von minus 0.75 auf heute rund 1.75 Prozent. Die Zinserhöhungen fielen dabei weniger drastisch aus, weil die Inflation in der Schweiz glücklicherweise deutlich tiefer liegt als in den USA.
Kapitel 3: Obligationen gewinnen Potential – aber verlieren an Wert
Leitzinsen haben einen direkten Einfluss auf die Kapitalmärkte: Wenn sie angehoben werden, steigen indirekt auch alle anderen Zinsen. Dadurch werden das Sparkonto bei der Bank und Anlagen in Obligationen wieder rentabler. Das erkennst du auch in der folgenden Grafik, die den Zusammenhang zwischen dem Zinsniveau und Obligationenrenditen zeigt:
Bei einem Leitzins über 2 Prozent (blaue Fläche) lieferten 5- bis 10-jährige US-Staatsobligationen seit 2000 im Folgejahr eine durchschnittliche Rendite von 8.4 Prozent. Während Tiefzinsphasen (rosa Fläche) dagegen nur 2.6 Prozent. Aktuell stehen US-Staatsobligationen bei einer Jahresrendite von etwa minus 1 Prozent, während die US-Leitzinsen so hoch sind, wie lange nicht mehr. Das verspricht für die nächste Zeit ein deutliches Aufholpotenzial.
Daneben haben Zinsen aber noch einen anderen wichtigen Effekt auf Obligationen: Obwohl ihre Renditen und damit die langfristige Attraktivität mit dem Zinsniveau steigt, verlieren Obligationen bei einem Zinsanstieg kurzfristig an Wert. Der Grund dafür ist, dass dann neue Obligationen mit einem höheren Zins auf den Markt kommen. Alte Obligationen, die noch auf einem tieferen Zins basieren, werden dadurch für Investoren uninteressant und sinken im Preis. Entsprechend führen steigende Zinsen zu kurzfristigen Verlusten auf Obligationen, während sich die zukünftigen Renditeaussichten verbessern. Entsprechend hat der Zinsanstieg der letzten Monate – auch bei Kaspar& - zu ungewöhnlichen Verlusten in vorsichtigen Anlagestrategien mit hohem Obligationenanteil geführt. In Zukunft wird man dafür aber auf Obligationen so hohe Renditen erhalten wie lange nicht mehr.
Dieser Effekt war übrigens auch der Hauptgrund für den Bankrott der Silicon Valley Bank (SVB) - und indirekt - für den Untergang der Credit Suisse: Die SVB hielt einen Grossteil ihrer Anlagen in eigentlich sicheren US-Staatsanleihen. Diese verloren durch den Zinsanstieg deutlich an Wert, wodurch die verunsicherten Kund:innen ihr Geld von der Bank abzogen und ein Bank-Run entstand. Wir haben in unserem Artikel «So kam es zum Kollaps der Silicon Valley Bank» darüber geschrieben.
Kapitel 4: Die Wirtschaft – und Aktien – leiden
Während man bei Obligationen für die kurzfristigen Verluste mit langfristigem Renditepotential entschädigt wird, sieht es bei Aktien etwas anders aus. Aktien sind eng an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt: Wächst die Wirtschaft, steigen die Aktienkurse. Steigende Zinsen sind dabei Gift für das Wirtschaftswachstum. Sie verteuern Kredite, Investitionen und den Konsum. Unternehmen verkaufen und investieren weniger. Die Wirtschaftsaussichten verschlechtern sich und Aktien verlieren an Wert. Dazu kommt, dass bei steigenden Zinsen Obligationen im Vergleich zu Aktien an Attraktivität gewinnen. Deshalb verkaufen dann viele Investoren Aktien und kaufen dafür Obligationen. Dadurch steigt der Wert von Obligationen, während Aktien unter Druck geraten.
Zinsen beeinflussen also nicht nur die zukünftigen Renditen von Obligationen, sondern auch von Aktien. Die obenstehende Grafik zeigt diesen Zusammenhang: Während Tiefzinsperioden (blaue Fläche) boten US-Aktien seit 2000 im Folgejahr durchschnittliche 12.8 Prozent Rendite. Bei einem Leitzins über 2 Prozent (rosa Fläche) resultierte dagegen im Mittel ein Verlust von 2.6 Prozent. Angesichts der strafferen Zinspolitik halten sich US-Aktien mit einer Jahresrendite von 10.1 Prozent aktuell deshalb erfreulich gut.
Das könnte daran liegen, dass eine baldige Zinswende seit einigen Wochen immer wahrscheinlicher wird. Ist die Inflation nämlich erst einmal unter Kontrolle, werden auch die Zinsen langsam wieder sinken. Dadurch steigt – nach den Obligationen – auch das langfristige Renditepotential von Aktien.
Kapitel 5: Die Inflation geht
Und genau diese Hoffnung hat sich in den letzten Tagen an den Finanzmärkten breit gemacht. Wie wir in unserem Marktupdate «Halbzeitpause!» im Juni geschrieben haben, hat sich die Inflation weltweit – und besonders in den USA – schneller reduziert als noch Anfang Jahr erwartet. Dieser Trend hat sich in den letzten Monaten bestätigt. Entsprechend liest man neuerdings nicht nur, dass der Höhepunkt bei den Zinsen bereits erreicht sein könnte. Die Märkte rechnen zusätzlich bereits ab Mitte 2024 – und damit ebenfalls viel früher als erwartet – mit den ersten Leitzinssenkungen.
Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, wären das sowohl für Aktien als auch für Obligationen gute Nachrichten. Obligationen profitieren im Fall von sinkenden Zinsen direkt von Aufwertungsgewinnen, während die langfristigen Renditeerwartungen von Aktien durch die freundlicheren Wirtschaftsaussichten steigen. Ein solches Szenario wäre das Gegenprogramm zum krisenbehafteten Umfeld der letzten zwei Jahre, das die Renditen von Aktien und Obligationen gleichzeitig belastet hat.
Bis die Inflation aber tatsächlich wieder aus der Tür raus ist, wird das Spiel an den Märkten noch etwas weitergehen. Und zwar immer nach den gleichen Regeln: Sinkt die Inflation, sinken die Zinsen. Dadurch gewinnen Obligationen an Wert und das Renditepotential von Aktien steigt. Und umgekehrt.
Jede neue Information zur Inflationsentwicklung hat deshalb derzeit einen direkten Einfluss auf die Märkte: Gute Nachrichten führen zu Kursgewinnen, schlechte Nachrichten zu Verlusten. Wie die obige Grafik zeigt, war es auch so, als sich die Inflation Ende 2021 festsetzte und die Aktienmärkte 2022 auf Tauchfahrt schickte. Erst als das Preisniveau gegen Ende 2022 zu sinken begann, erholten sich auch Aktien allmählich wieder. Allerdings nur bis im Sommer 2023, als die Bekämpfung der Inflation kurzzeitig ins Stocken geriet. Das bisher letzte Kapitel der Geschichte: Gestern wurden die US-Inflationszahlen für den Oktober bekannt. Die Inflationsrate sank deutlich von 3.7 auf 3.2 Prozent – anstatt wie erwartet auf 3.3 Prozent. Diese Nachricht reichte aus, um die Aktienpreise weltweit um rund 2 Prozent in die Höhe zu treiben. Der weltweite Aktienmarkt steht damit seit Anfang Jahr bei einem Plus von etwa 12 Prozent. Schweizer Aktien bei knapp 3 Prozent.
Die kurzfristigen Schwankungen an den Aktienmärkten dürften also noch etwas höher bleiben, bis sich die Inflation wieder auf einem normalen Niveau stabilisiert. Wer die Schwankungen aushält, könnte dafür bald mit einem deutlich freundlicheren Anlageumfeld belohnt werden, von dem sowohl Aktien als auch Obligationen langfristig profitieren. Dieses sogenannte Goldilocks-Szenario, das ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum, moderate Inflation und sinkenden Zinsen bringt, wird seit einigen Monaten von immer mehr Ökonom:innen als wahrscheinlich erachtet.