Marktbericht Juli 2024: Halbzeit! Der Halbjahresrückblick.
Die erste Hälfte des Jahres verlief etwas wie die Fussball-Europameisterschaft: überraschend unüberraschend. Zwischenzeitlich boten sich einige spannende Momente - es lag sogar eine Sensation in der Luft. Aber am Ende kam dann doch alles wie erwartet; die Wettbüros behielten recht mit ihren Quoten. Eigentlich schade. Irgendwie hätte man sich die Überraschung gewünscht. Zumindest beim Fussball.
Womit wir völlig unbeabsichtigt gleich beide Grundprobleme von Fussballvergleichen aufgedeckt haben: Sie werden anstrengend oft bemüht und sie hinken. Denn an den Finanzmärkten hält sich – im Gegensatz zum Fussballstadion – die Sensationslust selbstverständlich in Grenzen; nichts drückt so sehr auf die Stimmung wie Unsicherheit.
Insofern bot das erste Halbjahr Investorinnen zwischenzeitlich mehr Spannung als erhofft. Andererseits entwickelten sich dann doch fast alle wichtigen Anlageklassen bis Mitte Jahr positiv. Womit sich für den Trainer die Frage stellt: «War das jetzt gut oder braucht es Auswechslungen?» - und für den Zuschauer: «Ist das Glas eigentlich halb voll oder halb leer?».
Diesen Fragen gehen wir im aktuellen Marktbericht nach und wagen einen kurzen Blick zurück auf die vergangenen sechs Monate. Ganz ohne weitere Fussball-Metaphern. Vermutlich. Sonst gibt’s Rot.
Aufwärmphase
Um die Ereignisse seit Anfang des Jahres zu verstehen, müssen wir noch weiter zurückschauen. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Faktoren und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Aktienmärkte: Inflation und Zinsen.
Durch Corona und den Ausbruch des Ukraine-Kriegs brachen die weltweiten Lieferketten und die Verfügbarkeit wichtiger Rohstoffe zwischen 2021 und 2022 ein (wie Harry Kane im gegnerischen Strafraum 💀). Dadurch stiegen weltweit die Preise – die Inflation war zum ersten Mal seit Jahrzehnten zurück.
Diese Entwicklung rief die Nationalbanken auf den Plan. Ihre Aufgabe ist es, Preisstabilität sicherzustellen – also die Inflation zu bekämpfen. Dazu stehen ihnen die Leitzinsen zur Verfügung: Erhöhen sie diese, steigen die Zinsen in der gesamten Wirtschaft. Dadurch werden Kredite teurer; die Leute leihen sich weniger Geld und reduzieren ihre Ausgaben - die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen sinkt. Und damit auch deren Preise. Auf diese Weise steuern Nationalbanken das Preisniveau der Wirtschaft. Und das taten sie dann auch zwischen 2022 und 2023; sie erhöhten die Leitzinsen um die Teuerung in den Griff zu bekommen.
Dieses Vorgehen hat aber auch seine Schattenseite: Hohe Zinsen bremsen das Wirtschaftswachstum – weniger Konsum bedeutet weniger Umsatz. Die Finanzmärkte fürchten deshalb kaum etwas mehr als hohe Zinsen. Sie trüben die Gewinnaussichten von Unternehmen und drücken auf die Aktienpreise.
Aus diesem Grund beobachten Anlegerinnen und Anleger die Inflations- und Zinsentwicklung derzeit mit Argusaugen: Alles, was zu einem weiteren Preisanstieg und damit zu steigenden Zinsen führen könnte, wird als negatives Signal gewertet und führt zu Verlusten an den Aktienmärkten. Im Gegensatz dazu werden Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung mit Kursgewinnen belohnt, weil sie zukünftige Zinssenkungen antizipieren. Und genau darauf warten die Märkte aktuell sehnsüchtig: die baldige Zinswende.
Anpfiff
Wenig überraschend waren es dann auch die hohen Zinsen, die Anfang Jahr für die erste heikle Situation an den Märkten sorgten: Nachdem der Januar noch einigermassen unspektakulär verlief, kamen im Laufe des Februars Sorgen um eine mögliche Krise am Immobilienmarkt auf. Im Mittelpunkt stand dabei die insolvente Signa-Gruppe des österreichischen Immobilieninvestors René Benko. Wir schrieben darüber in unserem März-Update «Was zum Benko?».
Die Pleite warf die Frage auf, ob es sich dabei um einen Einzelfall handelte, bei dem sich Benko verspekulierte, oder ob grundlegende Risiken am Immobilienmarkt schlummern, die sich zu einer ernsthaften Krise auswachsen könnten. Vermutlich war es etwas von beidem.
Einerseits hatte Signa die Preise ihrer Immobilien mit fragwürdigen Praktiken künstlich in die Höhe getrieben, um darauf mehr Kredite – und damit mehr Rendite – zu erhalten. Dadurch stiegen aber auch die Kosten und Risiken der Signa-Gruppe; mehr Kredite bedeutet höhere Zinszahlungen. Bei einem tiefen Zinsniveau ein tragbares Risiko. Der starke Zinsanstieg zwischen 2022 und 2023 führte allerdings dazu, dass die Zinslast zu gross wurde und Signa später Insolvenz anmelden musste.
Glücklicherweise blieb die Signa-Pleite bisher ein Einzelfall und zog keine Immobilienkrise nach sich. Der Fall Benko sollte allerdings als Warnsignal betrachtet werden: Experten warnen seit Jahren vor einer Überhitzung des Immobilienmarktes. Gerade die Situation am Gewerbeimmobilienmarkt ist aufgrund langfristiger Entwicklungen wie der Digitalisierung immer noch angespannt. Entsprechend könnte die Zinswende auch diese Situation kurzfristig etwas entspannen.
Eigentor des Gegners
Nach diesem ersten Schock lag man plötzlich durch ein kurioses Eigentor in Führung und wusste nicht so richtig, wie einem geschehen war: Denn eigentlich gab es im Frühling wenig positive Nachrichten – im Gegenteil. Und trotzdem stiegen die Aktienmärkte. Plötzlich waren Good News Bad News. Und umgekehrt.
Die Financial Times schrieb in einem Artikel von Anfang April: «US-Aktien erleben ihren besten Tag in mehr als zwei Monaten, nachdem ein wichtiger Arbeitsmarktbericht hinter den Erwartungen zurückblieb (…)». Das Bureau of Labor Statistics hatte gerade mitgeteilt, dass im laufenden Jahr 70'000 Stellen weniger geschaffen wurden als erwartet. Und der US-Aktienmarkt reagierte darauf mit einem Preisanstieg von 2.3 Prozent. An den Märkten herrschte Gegenteiltag.
Über die Ursache für diese ungewöhnliche Situation haben wir in unserem Markbericht «Viel Glück zum Nichtgeburtstag!» geschrieben. Kurz zusammengefasst: Die Märkte interpretierten schlechte Wirtschaftsnachrichten als Signal für die nahende Zinswende – die aktuell grösste Hoffnung vieler Anlegerinnen. Der Grund dafür folgt exakt der weiter oben beschriebenen Logik: Kühlt sich die Wirtschaft ab (Bad News), sinkt die Nachfrage und die Inflation. Dadurch können die Zinsen früher und stärker gesenkt werden, was die Finanzmärkte beflügelt (Good News).
Normal ist das natürlich nicht. Normalerweise führen gute Nachrichten zu steigenden Aktienpreisen – und umgekehrt. Allerdings gab es solche Wunderlandphasen auch in der Vergangenheit schon. Oft sind sie eine Begleiterscheinung fundamentaler Krisen und ihr Abschluss kündigt eine allmähliche Normalisierung an.
Das Spiel stabilisiert sich
Tatsächlich gibt es auch aktuell Anzeichen dafür, dass wir uns nach fünf von Krisen und Kriegen geprägten Jahren auf dem Weg in ein stabileres Umfeld befinden. Dort würde dann wieder gelten: «Good News is Good News».
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Erholung der Aktienmärkte von ihren zwischenzeitlichen Verlusten – das Thema unseres Marktupdates vom Juni: «Unter Wasser.». Darin hatten wir festgestellt, dass sich die Märkte erstmals seit rund zweieinhalb Jahren wieder ihren historischen Höchstständen annähern. Einige – beispielsweise der US-Aktienmarkt – waren bereits Anfang Jahr wieder in die Gewinnzone zurückgekehrt. Andere – wie der Schweizer Aktienmarkt – stehen kurz davor.
Die Tatsache, dass Investorinnen nun unabhängig von ihrem Einstiegszeitpunkt wieder Gewinne verbuchen, spricht ebenfalls dafür, dass die langjährige Krisenphase langsam zu Ende geht.
Und die hatte es unbestreitbar in sich: Corona war eine Krise, wie sie jede Generation hoffentlich nur einmal erlebt. Und genau wie der Ukraine-Krieg führte sie zu tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die uns noch lange beschäftigen werden. Trotz dieser enormen Tragweite blieben die Verwerfungen an den Finanzmärkten allerdings überschaubar:
In unserer Darstellung zeigen wir den maximalen Verlust und die Zeit unter Wasser für den Schweizer Aktienmarkt seit 1990 bis heute. Dabei stechen zwei Verlustperioden hervor: die DotCom-Krise von Anfang der 2000er und die globale Finanzkrise von 2007. Mit einem maximalen zwischenzeitlichen Verlust von rund 50 Prozent und einer Dauer von über fünf Jahren gehören die beiden Krisen zu einer Handvoll historischer Finanzmarktkrisen, die sogar einen Namen erhalten haben.
Die beiden Krisen zeigen einerseits, mit welchen Verlusten man bei einem Aktieninvestment schlimmstenfalls rechnen muss. Andererseits rücken sie die Ereignisse der letzten Jahre etwas ins Verhältnis: So aussergewöhnlich die Corona-Krise und der Ukraine-Krieg waren, ihr Einfluss auf die Aktienmärkte war verhältnismässig bescheiden. Aktuell stehen die Märkte wie erwähnt kurz vor ihrer vollständigen Erholung.
Abpfiff
Man könnte also sagen, die Märkte gehen nach einem spannenden Frühjahr mit einer komfortablen Führung in die Pause. Aber wie wir alle wissen, ist der Ball rund und das Spiel dauert 90 Minuten. Damit stellt sich die Frage: Kann man der Situation vertrauen oder wird das in der zweiten Hälfte nochmals eine Zitterpartie? Ist das Glas halb voll oder die Flasche leer?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick über den aktuellen Zwischenstand hinaus. Bis Ende Juni haben praktisch alle wichtigen Anlageklassen deutliche Gewinne verbucht: Mit die höchsten Renditen verzeichneten globale Aktien und Gold mit jeweils rund 24 Prozent Wertzuwachs. Schweizer Aktien konnten da bisher nicht mithalten, erreichten aber mit über zehn Prozent eine ebenfalls mehr als stolze Halbjahresrendite – und dürften in Zukunft noch etwas Aufholpotenzial bieten. Selbst zwischenzeitlich krisenbedrohte Immobilien und sichere Schweizer Anleihen legten um über fünf, respektive fast zwei Prozent zu.
Dazu kommt: Die Form stimmt. Die wirtschaftliche Ausgangslage für die zweite Halbzeit wirkt vielversprechend. Der Sieg über die Inflation rückt immer näher und damit auch die Zinswende. In der Schweiz wurde sie bereits eingeleitet, in den USA rechnet man in den kommenden Monaten damit. Vieles spricht dafür, dass die sinkenden Zinsen der Treibstoff sind, den die Märkte brauchen, um die drei Punkte nach einer soliden Halbzeitführung sicher nach Hause zu bringen.