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Viel Glück zum Nichtgeburtstag!

Die Finanzmärkte stehen kopf: Warum schlechte Nachrichten die Aktienpreise derzeit steigen lassen.

Manchmal steht die Welt kopf: Der Frühstückstoast fällt auf die unbestrichene Seite, der Schlüssel gleitet beim ersten Versuch geräuschlos ins Loch, der Lift steht beim Verlassen der Wohnung schon bereit. Du reitest auf der grünen Welle zur Arbeit. Die Sonne scheint – die Leute auf der Strasse applaudieren dir. Viel Glück zum Nichtgeburtstag! Ab jetzt wird jeder Tag ein Feiertag.

Bei der Arbeit lässt dir das verdächtig leere Email-Postfach dann Zeit, deine Seele baumeln und deine Gedanken schweifen zu lassen. Und plötzlich beschleichen dich Zweifel: Irgendetwas stimmt hier nicht. Während du dir der negativen Konsequenz des Gegenteiltags bewusst wirst, wachsen deine Paranoia ins Unermessliche und du beginnst Alice zu verstehen: Eigentlich möchtest du einfach wieder raus aus dem Wunderland.

Etwas ähnlich dürfte es derzeit vielen Investorinnen ergehen. Denn seit einiger Zeit steht die Finanzwelt kopf: Kühlt sich die Wirtschaft ab, sprudeln die Gewinne an der Börse. Sinkt die Arbeitslosigkeit, tauchen die Aktienpreise mit. Gute Nachrichten werden zu schlechten Nachrichten – schlechte Nachrichten zu guten. An den Finanzmärkten herrscht Gegenteiltag.

Aber wie kann es sein, dass schlechte Wirtschaftsnachrichten plötzlich ein Kursfeuerwerk auslösen? Was hat uns ins Wunderland gebracht? Ist das alles normal? Und wann wachen die Märkte aus ihrem Traum auf? Um dies und mehr geht es in unserem aktuellen Marktbericht.

Viel Glück zur Arbeitslosigkeit!

Kürzlich schrieb die Financial Times: «US-Aktien erleben ihren besten Tag in mehr als zwei Monaten, nachdem ein wichtiger Arbeitsmarktbericht hinter den Erwartungen zurückblieb (…)». Was war passiert?

Das amerikanische «Bureau of Labor Statistics» meldete für April 2024 landesweit 175'000 neu geschaffene Jobs. Das hört sich nach viel an, lag aber deutlich unter den Erwartungen der meisten Analysten; diese hatten durchschnittlich mit einem Zuwachs von 240'000 Jobs gerechnet. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit leicht von 3.8 auf 3.9 Prozent an. Schlechte Nachrichten für die wirtschaftliche Entwicklung also.

Und trotzdem reagierten die Aktienmärkte beinahe euphorisch auf die Neuigkeiten: Der S&P 500, der bedeutendste US-Aktienmarktindex, legte in den beiden Tagen nach der Meldung um satte 2.3 Prozent zu. Bad news is good news. Aber wie kam es dazu?

Inflation, Zinsen und Wirtschaftswachstum

In Lewis Carrolls Kinderbuch folgt Alice einem weissen Kaninchen in seinen Bau – und landet nach einem langen Fall im Wunderland. So reizvoll die Vorstellung von zappelnden Börsenhändlern, die kopfüber im Kaninchenbau stecken, auch sein mag: Das stellt höchstens einen Teil der Finanzwelt auf den Kopf. Für das volle Programm braucht es mehr – zum Beispiel eine ordentliche Portion Inflation.

Um zu verstehen, wie die Inflation zum Kaninchenbau des Finanzmarktes werden kann, muss man sich ihr Zusammenspiel mit den Zinsen und dem Wirtschaftswachstum anschauen:

Steigen die Preise in der Wirtschaft, ruft das die Nationalbanken auf den Plan. Ihre Aufgabe ist es, Preisstabilität sicherzustellen – also die Inflation zu bekämpfen. Dazu stehen ihnen die Leitzinsen zur Verfügung: Erhöhen sie diese, steigen die Zinsen in der gesamten Wirtschaft. Dadurch werden Kredite teurer; die Leute leihen sich weniger Geld und reduzieren ihre Ausgaben. Das heisst, die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen sinkt – und damit auch deren Preise. Auf diese Weise steuern Nationalbanken das Preisniveau der Wirtschaft. Über diesen Mechanismus haben wir in der Vergangenheit immer wieder geschrieben; zum Beispiel in unserem Marktbericht «Warum Inflation so schmerzt!».

Das ist allerdings nur die eine Seite der Medaille; denn die Zinsen wirken sich nicht nur auf die Inflation aus, sondern auch auf das Wirtschaftswachstum. Mit hohen Zinsen bekämpft man nicht nur die Inflation – man reduziert damit eben auch die Nachfrage und bremst die Wirtschaft. Umgekehrt kurbeln tiefe Zinsen das Wirtschaftswachstum an, bergen aber die Gefahr von steigender Inflation.

Inflation - der Kaninchenbau der Finanzmärkte

Und was hat das jetzt mit dem Wunderland zu tun? Das lässt sich am einfachsten anhand unseres vorherigen Arbeitsmarkt-Beispiels verstehen:

Die Finanzmärkte wünschen sich derzeit nichts sehnlicher als eine Zinswende. Denn sinkende Zinsen versprechen steigende Aktienpreise. Dabei herrscht aktuell die Überzeugung, dass die Zinswende schneller kommt, wenn sich das Wirtschaftswachstum etwas abschwächt. Oder anders gesagt: Schlechte Wirtschaftsnachrichten werden derzeit als Signal für eine baldige Zinswende interpretiert – und treiben dadurch die Aktienpreise in die Höhe.

Diese paradoxe Situation lässt sich durch die beschriebenen Wechselwirkungen zwischen Inflation, Zinsen und Wirtschaftswachstum erklären: Aufgrund von Corona und des Ukraine-Kriegs stieg die Inflation bis Mitte 2022 weltweit auf ein Niveau an, wie wir es seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatten. Die Nationalbanken reagierten nach Drehbuch und erhöhten die Leitzinsen. Die Inflation begann daraufhin deutlich zu sinken und befindet sich heute in vielen Ländern wieder auf annähernd normalem Niveau. Vollständig überwunden ist das Problem allerdings noch nicht. Gleichzeitig befinden sich die Leitzinsen nach wie vor auf ihrem Höhepunkt – in den USA zum Beispiel bei fast 5.5 Prozent.

Diese hohen Zinsen schaden dem Wirtschaftswachstum und drücken auf die Aktienpreise. Investoren hoffen deshalb auf eine baldige Zinswende. Damit das allerdings passiert, müssen sich die Nationalbanken sicher sein, dass eine Zinssenkung nicht zum Auflodern der Inflation führt.

Und genau das ist aktuell die Sorge der Nationalbanken – und insbesondere der US-Federal Reserve Bank: Die US-Ökonomie hat sich zuletzt nämlich trotz des Ukraine-Kriegs erstaunlich gut erholt. Das Wirtschaftswachstum liegt heute genau wie die Arbeitslosenquote wieder auf Vor-Corona-Niveau. Die Wirtschaft brummt und damit der Konsum. Es wird wieder Geld ausgegeben. Und das führt, wie wir gesehen haben, zu Inflationsdruck. Eine Zinssenkung könnte im aktuellen Umfeld deshalb zum berüchtigten Tropfen werden, der das Fass zum Überlaufen – und die Preise erneut zum Steigen – bringt. Und das, kurz bevor die Inflation endgültig besiegt ist.

Dieser Umstand erklärt die Zögerlichkeit der US-Nationalbank bei der Einleitung der Zinswende. Und er erklärt auch, warum die Finanzmärkte schlechte Wirtschaftsnachrichten derzeit als positives Signal werten: Kühlt sich die Wirtschaft ab, sinken die Löhne, der Konsum und damit die Preise. Dadurch reduziert sich das Risiko für die Nationalbanken, dass bei einer Zinsreduktion die Inflation zurückkommt. Ihr Spielraum für Zinssenkungen nimmt zu.

Kühlt sich die Wirtschaft ab, steigt also die Chance auf eine baldige Zinswende und damit die Aktienpreise. Willkommen im Wunderland!

Der Economic Surprise Index

Normal ist das natürlich nicht. Normalerweise führen gute Nachrichten zu steigenden Aktienpreisen – und umgekehrt. Das hört sich nicht nur selbstverständlich an. Wir können es dir auch beweisen:

Dazu greifen wir auf den sogenannten Economic Suprise Index zurück. Darunter versteht man einen Index, der die Überraschung der Märkte über Wirtschaftsnachrichten misst. Konkret werden dabei die Differenzen zwischen tatsächlichen und erwarteten Wirtschaftsdaten verglichen. Sind die tatsächlichen Daten besser als die erwarteten Werte, wird das als positive Nachricht gewertet. Liegen die neu veröffentlichten Daten – wie in unserem vorherigen Arbeitsmarktbeispiel – unter der Erwartung, zählt das als negative Nachricht. Der Wert des Economic Surprise Index steigt dabei mit dem Ausmass an positiven Neuigkeiten.

Infografik - Der Economic Surprise Index

In der Darstellung siehst du den Economic Surprise Index von 2003 bis heute. Obwohl die Entwicklung auf den ersten Blick chaotisch wirkt, lassen sich grosse – besonders negative – Ereignisse erkennen: neben Corona unter anderen der Ukraine- und der Irak-Krieg, die globale Finanzkrise von 2008 und die europäische Staatsschuldenkrise von 2011. All diese Perioden waren – kaum überraschend – von schlechten Nachrichten geprägt.

Ein weiteres spannendes Detail, das der Economic Surprise Index sichtbar macht, sind die starken Gegenbewegungen in der Berichterstattung: Auf Phasen mit sehr negativen Nachrichten folgt häufig innerhalb kurzer Zeit eine (teilweise) Entwarnung. Das lässt sich damit erklären, dass Analysten bei der Einschätzung neuer Informationen oft überschiessen und danach zurückrudern müssen. Besonders extrem zeigte sich dieser Effekt zu Beginn der Corona-Krise: Aufgrund der Tragweite des Ereignisses und der herrschenden Unsicherheit gingen die meisten Analysten vom Schlimmsten aus. Das, was danach kam, stellte sich – zumindest aus wirtschaftlicher Perspektive – als deutlich weniger schlimm heraus. Die Analysten-Erwartungen wurden im Verlauf von 2021 und 2022 deshalb massiv übertroffen, was zum Teil erklärt, wie die Aktienmärkte nach einem ersten Einbruch bis zum Beginn des Ukraine-Kriegs eine solche Rallye hinlegen konnten.

Infografik - Die Finanzmärkte im Wunderland

Interessant wird es, wenn wir den Einfluss des Economic Surprise Index auf den Aktienmarkt untersuchen. Dazu haben wir die Werte des Index über die Zeit kumuliert und ihn der Entwicklung des US-Aktienmarktes gegenübergestellt. Dabei wird auf den ersten Blick klar: Die beiden Linien bewegen sich grösstenteils im Gleichschritt. Über den gesamten Zeitraum liegt die Korrelation zwischen dem Economic Surprise Index und den Aktienmarkrenditen bei 40%. Das heisst, langfristig führen gute Nachrichten zu steigenden Aktienpreisen. Good news is good news.

Schaut man sich die Korrelation allerdings über die Zeit an, findet man auch Perioden, in denen sich der Zusammenhang umkehrt: Die dunkelblauen Flächen markieren diese Zeiträume, während denen sich die Finanzmärkte im Wunderland befanden. Dort gilt: Bad news is good news.

Die Darstellung bestätigt einerseits den Verdacht, dass wir uns aktuell in einer solchen Phase befinden. Sie zeigt aber auch, dass es sich dabei um kein völlig ungewöhnliches Phänomen handelt. Ähnliche Perioden gab es in der Vergangenheit immer wieder. Zum Beispiel von 2006 bis 2007. Im vergangenen Jahrzehnt sogar dreimal.

Damals machte man sich ähnliche Gedanken wie heute, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Nach der Finanzkrise von 2008 senkten die Nationalbanken die Leitzinsen auf rekordtiefe Niveaus, um die Wirtschaft anzukurbeln. Gleichzeitig war klar, dass die Zinsen irgendwann auch wieder steigen und die Aktienmärkte unter Druck bringen würden. Die Frage war nicht ob, nur wann. Und die Nationalbanken hatten eine klare Meinung dazu: Sobald sich die Wirtschaft vollständig von der Finanzkrise erholt hätte, könnte man die Zinsen ohne grossen Schaden anheben.

Aus diesem Grund kamen die Aktienmärkte zwischen 2010 und 2020 immer wieder unter Druck, wenn die Weltwirtschaft sich zu gut entwickelte: Die Märkte interpretierten zu dieser Zeit – nach der gleichen Logik wie heute - positive Nachrichten als Signal für die nahende Zinswende. Einfach in die andere Richtung.

Wann wachen die Finanzmärkte auf?

Damals wie heute gilt allerdings: Langfristig bleiben gute Nachrichten gute Nachrichten. Die normalen Phasen überwiegen; seit 2003 befanden sich die Märkte nur zu rund einem Viertel im Wunderland. Und auch nur für kurze Zeit. Die längste Phase dauerte gerade einmal zwei Jahre.

Kurzum: Auch der aktuelle Besuch im Wunderland wird zu Ende gehen. Tatsächlich zeichnet sich kürzlich – trotz des eingangs erwähnten Beispiels – eine entsprechende Tendenz ab. Viele Ökonomen gehen deshalb davon aus, dass die Finanzmärkte gerade am Aufwachen sind. Unsere Analyse unterstützt diese Wahrnehmung ebenfalls: In den letzten Wochen hat die aktuell noch negative Korrelation zwischen dem Economic Surprise Index und dem Aktienmarkt deutlich zugenommen und bewegt sich langsam Richtung null – und damit raus aus dem Wunderland.

Das freut nicht nur Alice, sondern vermutlich auch die meisten Investorinnen. Denn auch wenn die Wunderland-Phasen grundsätzlich kein schlechtes Omen für die Börsen sein müssen, so verursachen sie trotzdem ein schlechtes Bauchgefühl und grosse Unsicherheit. Etwas, was die Finanzmärkte nicht besonders mögen. Denn zumindest beim Anlegen gilt: Normal ist dann doch am schönsten. Auch wenn man dafür auf 364 Feiertage verzichten muss.

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