Börsen-Domino
Anfang August gingen die Börsen auf Tauchfahrt. Dahinter steckt eine Kettenreaktion und die japanische Nationalbank.
Hoppala!
Manchmal reicht ein falscher Griff, eine kleine Unachtsamkeit und das Verderben nimmt seinen Lauf: Wie in Zeitlupe fällt Tante Gertruds Ming-Vase vom Sockel und zerschellt auf dem Perserteppich. Kinder weinen, Katzen fauchen, Menschen schreien. Es herrscht Chaos. Und man fragt sich: was ist eigentlich passiert?
Ähnlich dramatische Szenen spielten sich früher noch regelmässig am RTL-Domino-Day ab. Arme Teufel, die mit leerem Blick machtlos dabei zuschauen, wie ihre wochenlange Arbeit innert Sekunden in sich zusammenfällt. Den Domino Day gibt es «leider» nicht mehr. Wer den Nervenkitzel braucht, kommt aber auch an der Börse auf seine Kosten. Dort fallen die Aktienpreise manchmal auch wie die Steine beim Domino. Und man fragt sich: was ist eigentlich passiert?
Denn, wenn es an den Märkten zu solchen Kettenreaktionen kommt, sind die Auslöser dafür oft nicht wirtschaftlicher Natur. Oder nur teilweise. Oft stecken technische Gründe dahinter. Deshalb sind solche «Domino-Crashes» kaum hervorsehbar – und schwer verständlich.
Das gilt auch für den Markteinbruch von Anfang August: Während die japanische Börse am 5. August ihren zweitgrössten Tagesverlust der Geschichte erlitt, verloren Aktien weltweit innerhalb von fünf Tagen fast sieben Prozent an Wert. Und erholten sich danach bis Ende Monat vollständig – als ob nichts gewesen wäre. Für uns Grund genug, diesem kuriosen Phänomen im aktuellen Marktbericht auf den Grund zu gehen.
Wer war das?!
Nicht nur bei Tante Gertrud, sondern auch am Aktienmarkt drängte sich nach der ersten Aufregung selbstverständlich die Frage auf: Wer ist schuld?
Dabei kristallisierten sich bald drei mögliche Übeltäter heraus: Die schwächelnde US-Wirtschaft, die überbewerteten Big-Techs oder die japanische Nationalbank (und geldgierige Spekulanten). Aber der Reihe nach.
Wenn Amerika hustet, kriegen die Märkte (wieder) die Grippe.
Die erste und naheliegendste Erklärung für den plötzlichen Markteinbruch war schnell gefunden. Das Bureau of Labour Statistics enttäuschte die Märkte mit schlechten Nachrichten vom Arbeitsmarkt: Im Juli wurden in den USA knapp 70'000 Jobs weniger geschaffen als erwartet und die Arbeitslosigkeit stieg um 0.2 Prozent an.
Die US-Wirtschaft schwächelte also leicht. Aber reichte das allein aus, um den drastischen Einbruch zu erklären? Wohl eher nicht. Denn die Sorgen um die wirtschaftliche Erholung und den eng damit verbundenen Kampf der USA gegen die Inflation sind seit rund einem Jahr das beherrschende Thema an den Märkten. Ihr Einfluss auf die Aktienkurse war entsprechend berechenbar.
Bis auf ein spannendes Detail vielleicht: Bis vor kurzem galt an den Börsen noch «bad news is good news». Schlechte US-Wirtschaftsnachrichten wurden von den Investoren als Signal für eine baldige Zinssenkung interpretiert und mit Kursgewinnen belohnt. Wie wir schon in unserem Marktbericht vom Mai («Viel Glück zum Nichtgeburtstag!») vorausgesagt hatten, scheinen sich die Finanzmärkte nun endgültig normalisiert und aus dem Wunderland verabschiedet zu haben. Die enttäuschenden Arbeitsmarktdaten vom Juli drückten deshalb erwartungsgemäss auf die Aktienpreise. Eine praktisch identische (schlechte) Meldung hatte im April noch zu einem kleinen Kursfeuerwerk geführt.
Small is beautiful again!
Eine zweite mögliche Ursache für den Markteinbruch haben wir ebenfalls bereits in unserem Marktbericht vom April vorweggenommen: Das Ende der «glorreichen Sieben».
Die sieben Big-Techs Apple, Alphabet, Amazon, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla haben in den letzten Jahren vom Hype rund um das Thema Künstliche Intelligenz (KI) profitiert. Das Ausmass der Gewinne war enorm: Im Durchschnitt vervierfachten sich die Aktienkurse der glorreichen Sieben seit Anfang 2020. Damit waren die sieben Grosskonzerne in dieser Zeit für über 50 Prozent der Gewinne an den globalen Aktienmärkten verantwortlich.
Normal ist das nicht. Im Gegenteil. Wie wir im April geschrieben hatten, rentieren kleine Titel durchschnittlich besser als grosse: Small is beautiful. Zumindest langfristig. Es spricht deshalb einiges dafür, dass es auch diesbezüglich bald zu einer Normalisierung kommen könnte. Der Einbruch der Aktienmärkte von Anfang August war dann auch zu einem grossen Teil auf eine Korrektur bei den Big-Techs zurückzuführen: Nach ernüchternden Halbjahreszahlen hat sich der Hype um KI etwas gelegt und es kam zu einem zwischenzeitlichen Ausverkauf von Technologie-Titeln.
Investieren auf Pump
Die kleine Schwächephase der US-Wirtschaft und die Übertreibungen im Technologiesektor boten zwar das Fundament für den Minicrash. Der finale Auslöser war aber etwas anderes: Die Bank of Japan hatte Ende Juli zum zweiten Mal seit langer Zeit die Leitzinsen für den japanischen Yen erhöht – und damit ungewollt einen Domino-Effekt gestartet.
Wie sich nämlich im Nachhinein herausstellte, haben professionelle Investoren und Spekulanten weltweit im grossen Stil sogenannte Carry Trades mit dem Yen finanziert. Diese Carry Trades verloren durch die Zinserhöhung an Wert. Um die Verluste zu decken, mussten die Investoren Anlagen verkaufen, was zu immer weiter fallenden Aktienkursen führte. Ein Teufelskreis.
Investoren auf Schnäppchenjagd
Ein Carry Trade funktioniert dabei folgendermassen: Man nimmt einen Kredit in einer günstigen Währung auf. Günstig bedeutet in diesem Fall in einer Währung mit tiefen Zinsen. Das Geld, das man mit dem Kredit aufgenommen hat, investiert man in eine Anlage, die eine höhere Rendite bietet. Das können andere Währungen, aber auch riskantere Anlagen wie Aktien oder Immobilien sein. Die Differenz zwischen der Rendite der Anlage und den Schuldzinsen des Kredits ist der Gewinn des Carry Trades.
Im konkreten Fall fanden die Investoren das günstige Geld in Japan: Der Yen bietet seit Jahrzehnten mit die tiefsten Zinsen aller bedeutenden Währungen. Entsprechend nahm das Kreditvolumen im Yen immer weiter zu. Das billige Geld floss dabei teils in Währungen mit höherem Zins. Vielen Spekulanten war das aber nicht genug. Sie nahmen deshalb das Geld und investierten es in Risikoanlagen, die noch mehr Renditen versprachen. Besonders beliebt: Technologie-Aktien.
Mit anderen Worten: Die Aktienmarktrallye der vergangenen Jahre wurde vermutlich zumindest teilweise durch den billigen Yen finanziert.
Die ersten Steine fallen
Solange die Zinsen im Yen tief blieben, sprudelten deshalb die Gewinne und die Aktienmärkte eilten von Höchststand zu Höchststand. Je höher die Bewertungen stiegen, desto wahrscheinlicher wurde allerdings eine Korrektur.
Die schlechten Wirtschaftsnachrichten aus den USA und die Erhöhung der Leitzinsen im Yen waren dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Domino-Effekt war gestartet:
Durch die Zinserhöhung im Yen wurden die Carry Trades teurer. Gleichzeitig drückten die trüben Wirtschaftsaussichten auf die Aktienpreise und damit auf die Rendite der Carry Trades. Das heisst, die Investoren verloren doppelt. Die Verluste, die dabei entstanden, mussten sie irgendwie decken. Deshalb begannen immer mehr von ihnen, Aktien zu verkaufen. Dadurch verloren Aktien und die noch offenen Carry Trades immer weiter an Wert. Es entstand eine Abwärtsspirale.
Der Teufelskreis wird durchbrochen
Auch wenn es sich hier um einen sehr spezifischen Fall handelte: So oder so ähnlich laufen die meisten Börsen-Crashes ab. Es braucht einen gewissen wirtschaftlichen Nährboden – der Auslöser und die Dynamik des Absturzes sind aber oft technischer Natur. In diesem Fall die massenhafte Auflösung der Yen-finanzierten Carry Trades.
Wenn ein solcher Domino-Effekt erst einmal losgetreten ist, geht es deshalb oft nicht mehr um rationale, wirtschaftliche Überlegungen. Sondern darum, den Teufelskreis zu durchbrechen. Passiert das nicht, kann aus einem kleinen Crash schnell eine ausgewachsene Krise werden.
Und genau diese Angst trieb die Märkte auch Anfang August um. Zwischenzeitlich war das Ausmass des Problems nämlich unklar: Niemand wusste genau, wie gross das Volumen in den Carry Trades ist und wie tief die Kurse noch fallen würden. Heute wissen wir zum Glück, dass es bei einem kurzfristigen Einbruch blieb – die Märkte haben sich bis Ende August vollständig erholt. Im Gegensatz zu Tante Gertruds Vase.