
Du kommst hier nicht rein!
Falls du (wie wir) nicht mit Digital Detox ins neue Jahr gestartet bist, hast du vermutlich mittlerweile von der künstlichen Intelligenz (KI) «DeepSeek» gehört - der kleinen Schwester von ChatGPT, made in China. Wie viele kleine Geschwister, ist DeepSeek manchmal nervtötend, vorlaut (ausser es geht um gewisse historische Ereignisse) und legt sich gerne mit Grösseren an. Zum Beispiel mit Türstehern.
Während sich alle anderen in der Schlange beschämt abdrehen, um verkrampft zu signalisieren, dass sie nicht zum Unruhestifter gehören, kämpfen die Kleinen ihren glühenden Kampf gegen die Autorität. Wenn man dann selbst nach Stunden des Wartens freundlich, aber bestimmt vom Türsteher abgewiesen wurde, schleicht sich ein Gedanke ein: Hat der kleine Hitzkopf vielleicht tatsächlich für eine grössere Sache gekämpft? Wer feiert da drinnen eigentlich? Und warum ohne uns?
Im Fall von DeepSeek stellte sich heraus, dass es sich um eine geschlossene Gesellschaft handelt: Apple, Alphabet, Amazon, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla, haben in den vergangenen Jahren eine rauschende KI-Party gefeiert, die ihnen traumhafte Renditen und den gemeinsamen Namen «Die glorreichen Sieben» beschert hat. Wir haben in unserem gleichnamigen Marktbericht vom letzten Jahr bereits darüber geschrieben.
Als DeepSeek Ende Januar erstmals ungebeten zur Party auftauchte, rauschte die Stimmung (und die Aktienkurse) bei den Gästen in den Keller. Der Grund: Diese möchten den wahrscheinlich grössten Kuchen der Welt ungern mit anderen teilen. Weder mit dem chinesischen Plappermäulchen noch mit dem zurückhaltenden Partyvolk in der Warteschlange. Oder anders ausgedrückt: DeepSeek gefährdet grundlegend das Geschäftsmodell, das sich die US-Technologie-Konzerne in den letzten Jahren aufgebaut haben und das den enormen Wert dieser Unternehmen (zumindest teilweise) rechtfertigt.
Bei DeepSeek geht es also tatsächlich auch um eine grössere Sache: Gelingt es einigen wenigen Grosskonzernen, die Produktivitätsgewinne durch KI für sich zu behalten oder profitieren auch andere Unternehmen und die Konsumenten langfristig davon? Dieser Frage gehen wir in unserem Marktbericht nach und wir zeigen dir, wie diese Entwicklung das aktuelle Geschehen an den Börsen bestimmt. Aber der Reihe nach.
David gegen Goliath
Bei DeepSeek handelt es sich um ein bis vor Kurzem mehr oder weniger unbekanntes Startup, das vom chinesischen Finanzunternehmer Liang Wenfeng und seinem Hedgefonds «High-Flyer» zunächst als Nebenprojekt finanziert und 2023 ausgegründet wurde. Das Ziel: Die Entwicklung eines riesigen KI-Sprachmodells, ähnlich dem von OpenAI, auf dem ChatGPT basiert. Zwar lieferten bereits frühere Versionen des DeepSeek-Modells vielversprechende Resultate. Der Durchbruch – und die weltweite Aufmerksamkeit – kam allerdings erst mit der Anfang Jahr veröffentlichten Version: DeepSeek schloss damit zur Weltspitze auf. In Vergleichen schnitt das Modell ähnlich gut und manchmal besser ab als die bisherigen Spitzenreiter von OpenAI, Meta & Co.
Hätte diese Tatsache allein gereicht, um den glorreichen Sieben dermassen die Stimmung zu vermiesen? Sicherlich nicht. Immerhin handelt es sich um die grössten Unternehmen der Welt. Schliesst ein Konkurrent auf, stehen praktisch unbeschränkte Mittel zur Verfügung, um sich den technologischen Vorteil zurückzuholen. Besonders, wenn es sich beim Gegenspieler um ein wirtschaftliches Fliegengewicht wie DeepSeek handelt. Ärgerlich also, aber kein besonderer Grund zur Sorge. Das eigentlich Beunruhigende aus Sicht der Grosskonzerne liegt aber paradoxerweise gerade in der Tatsache, dass es einem Kleinunternehmen mit nur 200 Mitarbeitern überhaupt gelingen konnte, aufzuschliessen. Diese Einsicht könnte weitreichende wirtschaftliche und gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen – und dabei das Geschäftsmodell einiger globaler Grosskonzerne nachhaltig beschädigen. Darauf kommen wir gleich zurück.
Das Bahnbrechende an DeepSeek ist nämlich nicht in erster Linie die Leistung des Modells, sondern die Geschwindigkeit und die Ressourcen, mit denen es entwickelt wurde: Gemäss eigenen Angaben dauerte das Training des finalen Modells nur zwei Monate, kostete weniger als 6 Millionen Dollar und benötigte gerade einmal 2'048 Nvidia Grafikkarten. Zum Vergleich: OpenAI hat ein jährliches Budget von über 5 Milliarden, besitzt weit über eine halbe Million Nvidia Grafikkarten und arbeitete jahrelang an der Entwicklung ihres Sprachmodells – allein die Kosten für das Training der letzten Version werden auf rund 100 Millionen USD geschätzt. Egal wie man es also dreht oder wendet und unabhängig davon, wie zuverlässig diese Zahlen im Einzelnen sind: DeepSeek hat einen Quantensprung in der Entwicklung von KI-Modellen hingelegt.
Als die globalen Medien Ende Januar über DeepSeek und diesen technologischen Durchbruch zu berichten begannen, gerieten die Aktienkurse der US-Technologiegiganten ins Rutschen: Nvidia, das neben Apple teuerste Unternehmen der Welt, verlor über das Wochenende 20 Prozent – oder rund 600 Milliarden US-Dollar – an Wert. Zum Vergleich, das entspricht beinahe dem Gesamtwert der drei grössten Schweizer Unternehmen – Nestlé, Roche und Novartis – oder der gesamten Wertschöpfung der Schweiz in einem Jahr.
Dazu muss man wissen, dass Nvidia als der grösste Profiteur des KI-Booms gilt. Gestartet als Zulieferer für die Gaming-Industrie, produziert das Unternehmen heute die weltweit leistungsfähigsten Grafikprozessoren (GPUs), die benötigt werden, um KI-Modelle zu trainieren und zu betreiben. In den vergangenen Jahren besassen sie damit praktisch das Monopol auf den Rohstoff der KI-Wirtschaft – das Öl der Zukunft.
Nvidia wurde zwar am härtesten getroffen, die glorreichen Sieben verloren aber in den letzten Wochen insgesamt massiv an Wert. Seit Anfang des Jahres über 10 Prozent. Oder in US-Dollar ausgedrückt: Über 2'000 Milliarden USD. Ein kaum vorstellbarer Betrag. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) von Kanada hat sich innerhalb von etwas mehr als zwei Monaten in Luft aufgelöst.
Die Frage ist: Warum - und wohin?
The Winner Takes it All
Um diese Frage zu beantworten, muss man das Geschäftsmodell der glorreichen Sieben und anderer Technologiegiganten verstehen. Mit der fortschreitenden Digitalisierung seit Beginn der 2000er-Jahre wurde es möglich, immer mehr Kunden mit immer geringerem Aufwand zu bedienen. Die Voraussetzung dafür sind grosse Anfangsinvestitionen in die dafür notwendige Technologie und Infrastruktur. Läuft das System erst einmal, fallen kaum noch zusätzliche Kosten pro Kunde an; eine Software, die einmal entwickelt wurde, kann ohne nennenswerte Zusatzkosten an beliebig viele weitere Kunden verkauft werden. Sind die Entwicklungskosten gedeckt, generiert jeder Verkauf Reingewinn.
Dieses Fixkostenmodell – hohe Anfangsinvestitionen bei minimalen Stückkosten – hat in den meisten Branchen zu einer fundamentalen Veränderung der Geschäftslogik geführt. Wer im Wettbewerb bestehen möchte, ist zu Wachstum verdammt. Weil die Investitionskosten unabhängig von der Anzahl Kunden anfallen, steigt die Profitabilität mit jedem zusätzlichen Kunden und das Produkt kann günstiger angeboten werden, was das Wachstum weiter beschleunigt. Diese Logik führt dazu, dass nur jene Unternehmen überleben, die eine kritische Grösse erreichen. Im Extremfall – und oft auch in der Realität – bleibt nur das grösste Unternehmen übrig. Mit anderen Worten: Die Digitalisierung hat eine neue Monopolisierungstendenz mit sich gebracht. Man spricht in diesem Zusammenhang deshalb von sogenannten «Winner-takes-it-all»-Märkten – der Grösste erobert den gesamten Markt.
Und genau nach diesen Spielregeln haben die Finanzmärkte in den letzten 20 Jahren funktioniert. Startups, Investoren, Venture Capital Funds, das gesamte Silicon Valley: Alle waren auf der Suche nach dem skalierbarsten Geschäftsmodell. Je besser die Wachstumsaussichten, desto höher die Profitabilität. Je grösser, desto besser. Geld zog Geld an. Und die unbestrittenen Stars: die glorreichen Sieben. Sie hatten das Spiel perfektioniert. Man bezeichnet sie deshalb als «Hyperscaler».
Die (glor)reichen Sieben und ihr Türsteher
Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die unfassbaren Summen erklären, die die glorreichen Sieben in den letzten Jahren in die Technologie-Entwicklung investiert haben. Sie stiegen von etwas mehr als 10 Milliarden im Jahr 2011 auf rund 250 Milliarden im Jahr 2024. Amazon allein investierte vergangenes Jahr 80 Milliarden in die Entwicklung neuer Technologien - den grössten Teil davon in die Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz.
So absurd diese Summen auch klingen, bis vor Kurzem hielten das viele für eine profitable Wachstumsinvestition. Dieser Glaube wurde durch DeepSeek erschüttert. Bisher ging man nämlich davon aus, dass der technologische Fortschritt, der für die Skalierung notwendig ist, nur durch riesige Investitionen erreicht werden kann, weil das Training von KI-Modellen enorme Daten und Rechenkapazitäten erfordert. In dieser Logik war das Geld, das in die Entwicklung von KI floss, nicht nur ein notwendiges Übel, das langfristig hohe Renditen versprach; die Investitionen stellten auch eine natürliche Eintrittsbarriere für neue Wettbewerber dar. Jeder Dollar, der in KI investiert wurde, machte es unwahrscheinlicher, dass sich ein neues Unternehmen ohne milliardenhohe Finanzierung einen Teil vom Kuchen erkämpfen könnte. Geld wurde zum Türsteher für die glorreichen Sieben. Und hinter verschlossenen Türen wurde gemütlich weiter gebacken: Allein zwischen 2020 und 2024 erhöhte sich der Wert von Apple & Co. um das Dreifache. Bis es Anfang des Jahres dann zur erwähnten Korrektur durch DeepSeek kam.
Die Garagenbäckerei
Das chinesische Startup ist nämlich nicht einfach ein neuer Konkurrent, den es zu schlagen gilt. Es geht um grundlegendere Fragen: DeepSeek hat die Möglichkeit aufgezeigt, sich mit beschränkten finanziellen Mitteln einen Teil des KI-Kuchens abzuschneiden; Geld erfüllt seine Rolle als Türsteher womöglich nicht so zuverlässig, wie man dachte. Schlechte Nachrichten also für alle, die bereits enorme Summen investiert haben: Wenn KI durch neue Methoden günstiger wird, fällt die wichtigste Eintrittsbarriere weg und der Wettbewerb nimmt zu. Der Kuchen wird neu verteilt.
Das erklärt, warum die glorreichen Sieben als KI-Marktführer seit Anfang Jahr so stark einbüssen konnten – Teile ihrer Investitionen haben durch diese neue Entwicklung an Wert verloren. Es erklärt aber nicht die Aufregung, die dadurch an den Aktienmärkten weltweit ausgebrochen ist. Aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive hat DeepSeek schliesslich keinen Wert vernichtet. Im Gegenteil. Sollte es sich bewahrheiten, dass KI günstiger entwickelt werden kann als bisher angenommen, würde dies nicht nur bedeuten, dass der Kuchen gleichmässiger verteilt wird. Langfristig sollte dies auch die Nachfrage nach KI-Anwendungen erhöhen und damit das Produktivitätswachstum ankurbeln. Oder anders ausgedrückt: Günstige KI verbessert die Wirtschaftsaussichten und müsste die Börsen (und die Konsumenten) eigentlich freuen.
Ein Grund, weshalb sich diese Freude an den Börsen bisher nicht widerspiegelt, liegt in einem Aspekt, den wir bisher ausgeblendet haben: KI ist auch Gegenstand von Machtpolitik. Ähnlich wie beim Rennen zum Mond geht es führenden Nationen aktuell darum, sich die Vorherrschaft in einer Kerntechnologie der Zukunft zu sichern. Das zeigt sich beispielsweise an den Exportbeschränkungen, die die USA schon früh auf die begehrten Grafikprozessoren von Nvidia eingeführt haben, um den technologischen Fortschritt insbesondere chinesischer Unternehmen zu behindern. Der Verteilkampf ist also auch Teil einer neuen digitalen Geopolitik, bei der es den USA darum geht, ihre wirtschaftliche und technologische Vormachtstellung zu behaupten.
Vielleicht kommst du hier doch rein.
Diese hat sich in den vergangenen Jahren auch an den Börsen immer deutlicher gezeigt. Von 2020 bis 2024 hat der US-Aktienmarkt – angetrieben von den glorreichen Sieben – um rund 75 Prozent zugelegt, während es die meisten europäischen Länder und die Schweiz nur auf knapp die Hälfte brachten. Mit dem Eintritt von DeepSeek scheint sich nun teilweise zu bewahrheiten, was wir bereits in unserem Marktbericht vor einem Jahr geschrieben hatten. Der unglaubliche Lauf der glorreichen Sieben (und damit des US-Aktienmarktes) könnte zu Ende gehen: Eine Investition in die grössten und bekanntesten Unternehmen hat sich in der Vergangenheit langfristig nie ausgezahlt.
Die aktuelle Börsenentwicklung könnte ein Zeichen dafür sein, dass diese Einsicht sich langsam auch an den Finanzmärkten durchsetzt: Während die Glorreichen Sieben und amerikanische Technologietitel seit Anfang des Jahres insgesamt rund 10 Prozent eingebüsst haben, hatte der restliche US-Aktienmarkt kaum Verluste zu verzeichnen. Aktuell beobachten wir also noch keinen breiten Markteinbruch, sondern eine Korrektur bei einigen wenigen (zugegebenermassen riesigen) US-Technologietiteln, deren Geschäftsmodell von den Investoren neu beurteilt wird. Noch deutlicher wird diese Feststellung im Vergleich zu anderen Ländern, deren Aktienmärkte in den vergangenen Jahren hinter US-Aktien zurückblieben: Der europäische Aktienmarkt legte seit Anfang Jahr bisher um fast 9 Prozent zu. Schweizer Aktien sogar um 12 Prozent. Dies zeigt – wenig überraschend –, dass die aktuelle KI-Entwicklung offenbar nicht überall so pessimistisch beurteilt wird wie in den USA und die langfristigen Wachstumschancen langsam erkannt wurden. Vielleicht wird die Party doch grösser als gedacht.